Vorgeschichte und Umfeld

Vorgeschichte und Umfeld
des LITURGISCHEn SINGKREISes JENA

Historisch muß man diese Gruppierung als Nachkommenschaft der KIRCHLICHEN ARBEIT ALPIRSBACH ansehen, wobei jedoch durch die faktische Trennung von Alpirsbach seit der deutschen Teilung eine neue, unabhängige Bewegung erwuchs. Seit dem Ende der 1940er Jahre führte zunächst Dr. Ehrhart Paul regelmäßige Singwochen im Rahmen des Singwochenprogramms der Evangelisch Lutherischen Landeskirche Sachsens durch, bei denen neben Figuralmusik auch Stundengebet nach Alpirsbacher Antiphonale gehalten wurde. Später leitete diese Singwochen der sonst mehr als Cembalist und Organist bekannte Walter Heinz Bernstein (1922 – 2014) aus Leipzig. In den 1950er Jahren gründeten lutherische Theologiestudenten in Leipzig, die diesem Kreis verbunden waren, die Evangelisch Lutherische Gebetsbruderschaft. Die Hauptanliegen ihres Statutes waren von Anfang an:
1. Lutherisches Bekenntnis,
2. regelmäßige sonntägliche Eucharistie,
3. Breviergebet mit gegenseitiger Fürbitte.
In den letzten 25 Jahren bekam in der Bruderschaft zunehmend der ökumenische Gedanke Gewicht. Die Evangelisch Lutherische Gebetsbruderschaft benutzt ein eigenes Brevier (Antiphonale) in deutscher Sprache, das das gesamte Kirchenjahr umfasst. Die Melodien basieren auf dem Alpirsbacher Antiphonale mit Ergänzungen von E. Paul und W. H. Bernstein.
Die relative Distanz gegenüber Alpirsbach und die eigene Produktivität von E. Paul und ebenso von W. H. Bernstein sowie der geistige Einfluß der Bruderschaft führten nach der äußeren bald auch zur inneren Loslösung. Da die Alpirsbacher Bücher in der DDR nicht käuflich waren, wurden – um nur ein Charakteristikum zu nennen – die Stundengebetshefte handschriftlich kopiert, später handgeschriebene Vorlagen im Lichtpausverfahren vervielfältigt. Dabei kam es natürlicherweise bald zu – mit Alpirsbach nicht abgestimmten – Revisionen, Ergänzungen und Umgestaltungen. Aus dem Drang nach den Quellen bezog W. H. Bernstein seit Anfang der 80er Jahre regelmäßig ein lateinisches Meßordinarium und ein -proprium in die Gregorianischen Arbeitswochen ein. 1982 gründete B. Gröbler, der sich seit Beginn der 70er Jahre den Gregorianischen Singwochen angeschlossen hatte, den LITURGISCHEn SINGKREIS JENA. Hier bildete von Anfang an der lateinische Choral das Hauptanliegen. 1987 übernahm B. Gröbler auch die Leitung der Gregorianischen Arbeitswochen, im Jahr 2000 folgte ihm S. Seltmann in dieser Funktion.
Beim Übergang vom Alpirsbacher Antiphonale zum lateinischen Choral – also etwa um 1980 – wurde bald fühlbar, daß es an Kenntnissen zu seiner adäquaten Interpretation fehlte. Nur solange man Buchholz‘ Bearbeitungen sang, konnten die von ihm überlieferten Singregeln beibehalten werden. Für B. Gröbler kam allein eine wissenschaftlich fundierte Interpretation des lateinischen Chorals infrage. Aber es stellte sich schnell heraus, daß es zur Erreichung solch ehrgeizigen Zieles in der DDR so gut wie keine Voraussetzungen gab: im Handel keine, in Bibliotheken nur veraltete Literatur, an keiner Universität oder Musikhochschule ein entsprechendes Lehrfach oder aktuell unterrichtete Fachleute, zum Glück an einigen Stellen die Paléographie Musicale.
So musste es gehen wie immer, wenn ein „bis dahin unbekanntes Gebiet“ betreten wird: In Korrespondenzen mit den erreichbaren Mediaevisten ( darunter einigen Schülern Besselers ), in mühsamer Beschaffung von moderner Literatur, im fleißigen Abschreiben der Paléogrphie Musicale und vor allem im unermüdlichen Probieren mit den Sängern, stets bereit zum Zweifel und zur Revision, wurde der Weg gefunden. Seit 1989 bestehen regelmäßige, kollegiale Verbindungen mit Mitgliedern der AISCGre sowie zahlreichen Musikwissenschaftlern und Hochschulen.
Die KIRCHLICHE ARBEIT ALPIRSBACH (KAA) wurde in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gegründet durch Richard Gölz. (Alpirsbach: ein ehemaliges hirsauisches Kloster im Schwarzwald). Die Gründung hatte unter anderem die Wiederbelebung des Gregorianischen Chorals in der evangelischen Kirche zum Ziel. Die KAA ist ein bedeutender Teil der umfangreichen Liturgischen Bewegung seit Anfang des 20. Jh. in der deutschen evangelischen Kirche. Später wurde Friedrich Buchholz für die KAA prägend. Theologisch standen die Gründer der KAA Karl Barth nahe.
Dagegen sind die Glieder der  Evangelisch-Lutherischen Gebetsbruderschaft überwiegend Lutheraner. Dies ist ausschlaggebend für ihre Stellung zum Gregorianischen Choral gewesen. Denn die Lutherischen Kirchen haben sich während und nach der Reformation liturgisch stets konservativ verhalten (im Unterschied zu den calvinistischen Kirchen). Neben der muttersprachlichen Liturgie hielten sich im Lutherischen Bereich an vielen Stellen lateinische Riten. In Leipzig z. B. gab es noch im 18. Jh. lateinische Passionsmusik, lateinische Matutin und lateinische Messe! Aber auch die muttersprachliche Liturgie der lutherischen Landeskirchen in Deutschland ist der römischen Urform noch nahe. So war der Boden für eine semiologisch fundierte Choralpflege im Kontext der lutherischen Kirche durchaus bereit.